Ernst und Sasha Morgenthaler, gemalt von Ernst Morgenthaler. «Das Lachen und das Weinen werden sich die Waage halten»1 Steffan Biffiger Ernst Morgenthaler ist 1887 im ländlichen Kleindietwil im Unteremmental geboren und aufgewachsen. Hermann Hesse, der spätere langjährige Freund, beschreibt den kleinen Ernst auf einer Fotografie von etwa 1892: «Das Familienbild […] zeigt die Eltern des Malers mit ihren fünf Kindern; einer der Brüder Ernst’s, ein leidenschaftlicher Zeichner, sieht besonders wach und begabt aus, er starb im Alter von sechzehn Jahren. Der Vater sitzt würdig, ein Herrscher, inmitten der Seinen, sanft und bescheiden neben ihm die Mutter, der kleine Ernst aber hockt mit halboffenem Mäulchen dick und naiv zur Rechten, gesund und eher etwas dösig, und scheint noch nicht die leiseste Ahnung davon zu haben, dass je etwas anderes aus ihm werden könnte als ein fester, gesunder und vergnügter Bauernbub.»2 Sein Vater Niklaus Morgenthaler, aus altem Bauerngeschlecht stammend, war Bahningenieur bei der Langenthal-Huttwil-Bahn; er wurde bernischer Regierungsrat, was 1897 den Umzug der Familie nach Bern bedingte, und 1903 in den Ständerat gewählt. Der Alltag war von viel Arbeit geprägt, und es blieb wenig Zeit für kulturelle Tätigkeiten. «Denn an meiner Wiege stand keine Muse, die mir den richtigen Weg gewiesen hätte. Sie kam dann wohl eines Tages, aber spät – eine richtige Berner Muse. Sie schlug ihre dicken Augenlider erst auf, als ich schon hoch in den Zwanzigern war»3, fasst Ernst Morgenthaler selber dies später zusammen. Nach einigen Irrwegen kommt er 1914 als 27-Jähriger für anderthalb Jahre zu Cuno Amiet auf die Oschwand, wo er das Handwerk der Ölmalerei und deren freie Anwendung lernen will. Amiets künstlerisches Temperament, sein direkter malerischer Ausdruck sowie seine Gelöstheit und Souveränität haben es dem jüngeren Kollegen angetan. Nach seinen akademischen Studien bei Eduard Stiefel an der Kunstgewerbeschule Zürich und bei Fritz Burger in Berlin erlebt Morgenthaler das Malen bei Cuno Amiet als eine Befreiung. Seine langjährigen Berufswahlprobleme lösen sich: Er weiss nun, dass er Maler werden will. Die anfänglich starke Abhängigkeit von Amiet, wie sie etwa in seinen Landschaften und Darstellungen aus der Oschwand-Zeit ersichtlich ist, weicht sehr bald eigenständigen Formulierungen in Thema und Gestaltung. Er findet seinen Weg «von der fabulierenden Zeichnung zur Malerei»4 und schafft sich seine eigene künstlerische Welt. Schicksalhaft wird die Begegnung mit der sechs Jahre jüngeren Sasha von Sinner, die kurz nach ihm als Schülerin auf die Oschwand kommt und ein Jahr bei Cuno Amiet bleibt. Sasha, eigentlich Mary Madeleine Sascha, stammt aus einem Berner Patriziergeschlecht, wird 1893 als jüngste Tochter von Eduard und Marie (Mary) von Sinner-Borchardt auf dem Gut «Schlössli»5 an der Schlösslistrasse 29 in Bern geboren und verbringt hier ihre Kindheit mit drei Geschwistern.6 Der Vater, der 1886 mit 52 Jahren die 19-jährige Tochter des jüdischen Mathematikprofessors Carl Wilhelm Borchardt aus Berlin geheiratet hatte, stirbt ein halbes Jahr nach Sashas Geburt. Die Mutter von vier Kindern wird bereits mit 27 Jahren Witwe. Sie pflegt einen grossen Freundeskreis, veranstaltet Hauskonzerte, studiert zudem ab 1905 Medizin und erhält 1915 als erste Bernerin den Doktorhut der Universität Bern. Die Kinder sind während all der Jahre der Obhut von Kindermädchen anvertraut. Darunter leidet vor allem die ältere Schwester Lily, weniger jedoch Sasha, die bald selbstbewusst ihren Weg geht. Lily beschreibt ihre Schwester folgendermassen: «Sasha war so geartet: Sie ruhte von Anfang an in sich selbst; unbekümmert um alles Äussere ging sie ihren eigenen Weg und folgte instinktsicher ihrer inneren Stimme. Der Mutter intellektuelles und musikalisches ‹Getue› ging ihr auf die Nerven. Sie entzog sich ihm. Sie lebte in ihren phantasiereichen Spielen, sie besorgte ihre Tiere, kleidete ihre Puppen, spielte Eisenbahn und kletterte auf den Kastanienbaum hinauf. Sie zeichnete und malte.»7 Karte von Sasha an ihren Bruder, undatiert. Bezeichnend sind die Briefe an ihren älteren, früh verstorbenen Bruder Rudi, die sie mit Illustrationen und Vignetten versieht.8 Legendär sind die Hauskonzerte in der «Engried» an der Engestrasse 77, wohin die Familie 1899 gezogen war: «Da hat es denn Feste bei uns im Engried gegeben, Musikabende von hinreissender Schönheit, an die ich jetzt noch mit Wonne denke, als an ganz schöne Erlebnisse! Bis in die späte Nacht klangen die Sonaten, die Trios und Quartette in die milde Sommernacht hinaus. Auf der Engestrasse blieben späte Passanten stehen und lauschten beseligt mit.»9 Paul Klee in seinem Atelier in Bern, 1902. Foto aus Sashas Fotoalbum, 1915. An diesen Konzerten nimmt oft Paul Klee als Geiger teil; bereits vor seiner Heirat 1906 war er vom befreundeten gleichaltrigen Dermatologen Dr. Felix Lewandowsky in das Haus von Sinner eingeführt worden. Die beiden Töchter, vor allem aber Lily, bewundern den elf bzw. vierzehn Jahre älteren Klee.10 Dieser erkennt auch von Anfang an das künstlerische Talent der jungen Sasha und setzt sich bei ihrer Mutter ein, sodass sie mit 16 Jahren das Gymnasium, wo sie als einziges Mädchen in einer Bubenklasse sitzt, verlassen und von 1909 bis 1913 an der Ecole des Beaux-Arts in Genf studieren kann: Zeichnen, Skulptur und Malerei, Anatomie. 1914 kommt Sasha von Sinner für eine mehrmonatige Ausbildung zu Cuno Amiet auf die Oschwand, wo sie Ernst Morgenthaler begegnet; anschliessend studiert sie 1915/16 auf Klees Rat in München weiter, wo auch Morgenthaler bei Klee Malstunden nimmt. Sasha besucht zudem die Malschule des ungarischen Künstlers Simon Hollósy und belegt dort zusätzlich das Fach Anatomie. Sie ist aber auch oft bei Klees zu Hause. Ernst Morgenthaler beeindrucken in dieser Zeit die regelmässigen Gespräche mit Paul Klee, der ihm «eine Fülle von Anregungen»11 vermittelt und ihn aber vor allem auf sich selbst, auf seine unbefangenen ersten Arbeiten verweist, in denen er seine Empfindungen direkt ins Bild umzusetzen suchte. Ernst und Sasha geniessen ihr Zusammensein im fernen München und verlieben sich ineinander; bereits im September 1916 heiraten sie in Burgdorf. Die menschliche und künstlerische Verbindung zu Cuno Amiet und Paul Klee steht also am Beginn ihres gemeinsamen Lebens und ist für beide von grosser Bedeutung. Das junge Ehepaar zieht zuerst nach Genf, dann nach Hellsau, wo am 5. März 1918 Niklaus zur Welt kommt. Der zweite Sohn, Fritz, wird am 19. Juli 1919 in Oberhofen am Thunersee geboren, wohin die Familie kurz…